Reflektion

Die dunkelste Zeit des Jahres ist angebrochen, und es ist ratsam sich Reflektoren an Taschen, Rucksäcken und Jacken zu heften. Vielleicht erwartet der eine oder andere Leser nach zwei Jahren in Oslo auch ein tiefgehendes, reflektiertes Fazit über das Auswandern. Doch das ist nicht so einfach. Zum einen halte ich das Auswandern und Reflektieren darüber für einen langwierigen, vielleicht sogar lebenslangen Prozess. Zum anderen mögen sich zwei Jahre lang anhören, sind aber doch nur ein kleiner Moment im Leben eines erwachsenen Menschen. Aufbauend auf dem Blog-Eintrag „November-Blues“ aus dem November des vergangenen Jahres versuche ich es trotzdem.

Zunächst einmal gibt es bei einer Entscheidung wie dem Auswandern kein richtig oder falsch, kein schwarz oder weiß. Niemand wird jemals wissen, ob es anders – und „anders“ kann bedeuten, in der Heimat zu bleiben, innerhalb von Deutschland umzuziehen oder in ein anderes (vielleicht südliches) Land zu ziehen – vielleicht besser gewesen wäre. Es ist auch hierbei wie mit allen Entscheidungen: Man kann lediglich in der Situation, in der man sich befindet, mit allen Informationen, die vorliegen, die in diesem Moment optimale Entscheidung treffen. Der folgende Absatz ist vermutlich nur für Ökonomen zum Schmunzeln – ähnlich wie das Kartenspiel Bonanza nur mit Ökonomen richtig Spaß macht – und führt den letzten Satz weiter aus. Alle anderen Leser sind hiermit von der Lesepflicht befreit und können das „Weihnachts-Spezial für Ökonomen“ überspringen:


Weihnachts-Spezial für Ökonomen

Da erinnere ich mich nun an „Contract and Information Economics“. Mit etwas Phantasie lässt sich Akerlof’s „Market for Lemons“-Problem auch auf das Auswandern (und vermutlich viele andere Entscheidungen) übertragen. Versteckte Charakteristika gibt es beim Auswandern viele, doch Kultur ist sicherlich das Prägendste. Es ist nicht möglich zu wissen, was auf einen zukommt. Man versucht also das Risiko eine „saure Zitrone“ zu bekommen bei seiner Entscheidung mit einzupreisen. Mit Norwegen als kulturell vergleichsweise ähnlichem Land ist das Risiko eingedämmt, aber nicht verschwunden.

Zu Universitätszeiten wäre ich vielleicht sogar in der Lage gewesen, eine ökonomische Berechnung zu dieser Entscheidung anzustellen. Nach ein paar Jahren praktischer Arbeit war das leider nicht mehr möglich. Stattdessen habe ich vor zwei Jahren eine Vor- und Nachteileliste aufgestellt, verschiedene Szenario-, Volatilitäts- und Wahrscheinlichkeitsabschätzungen durchgeführt und einen Worst Case aufgestellt – für etwas muss die Studienzeit ja gut gewesen sein –, um dann zugegebenermaßen dem Bauchgefühl das letzte Wort zu geben. Ich stelle mir vor, dass es bei diesem Spiel auch multiple Gleichgewichte gab und gibt. Die Frage war lediglich, ob ich mit dem Auswandern ein Gleichgewicht „Zufriedenheit“ treffe oder noch nicht einmal auf einem zu „Zufriedenheit“ konvergierenden Pfad lande. Wie im folgenden Text ausgeführt, bin ich nach meiner jetzigen Einschätzung auf einem guten Pfad bzw. Gleichgewicht gelandet. Hier verfolge weiterhin die Strategie der sequenziellen Rationalität, versuche also auf dem Pfad, auf dem ich mich gerade befinde, die beste Entscheidung zu treffen.


„Erfolgreiches Auswandern“ lässt sich somit nur schwer definieren. Mein Erfolgskriterium war und ist, sich in der neuen Umgebung in Summe wohl zu fühlen. Nicht mehr, und nicht weniger. Zu hohe und insbesondere unrealistische Erwartungen können nur enttäuscht werden. Es wird immer etwas geben, was „besser“ ist und etwas was „schlechter“ ist. Es hängt dann von der Persönlichkeit ab, worauf man seinen Fokus legt und worüber man hinwegsehen kann. Beruhigend war für mich zu wissen, dass diese Entscheidung auch rückgängig gemacht werden kann. Das erfordert einige Nerven, aber ist nicht unmöglich. Entscheidungen enden selten unwiderruflich am Preikestolen (siehe Bild), von dem es nur noch in die Tiefe geht. Realistische Erwartungen, die Sicherheit nicht auf dahin schmelzenden Eisschollen in eine Sackgasse zu rennen sowie eine gewisse Gelassenheit und Genügsamkeit tragen dazu bei, dass Auswandern erfolgreich werden kann. Meiner Meinung nach leben wir derzeit und hier in einer Welt voller Möglichkeiten, die das Leben nicht unbedingt einfacher macht. Trotzdem bin ich dankbar, dass ich die Möglichkeit hatte zu schauen was links und rechts vom Weg liegt. Nun ist der Norden ein Teil meines Weges geworden.

Ich denke, ich befinde mich immer noch bei vielen Dingen in Phase 2(vgl. „November Blues“). Es ist anstrengend, dass Norweger sehr amerikanisch oberflächlich und gleichzeitig extrem verschlossen sind. Ein herzliches, aufrichtiges Band zu knüpfen ist äußerst schwierig. Dabei meine ich noch nicht einmal engste Freundschaften, sondern alltägliche Situationen. Wie lässt sich die Schizophrenie erklären, dass man einerseits ständig auf der Straße angerempelt wird und andererseits im Wald beim Wandern nett gegrüßt wird? Die Lehrerin des Norwegisch-Kurses versuchte uns zu erklären, dass Norweger das Großstadtleben noch nicht so gut verinnerlicht haben. Sie kommen von Orten, an denen es keinen Trouble gibt, an dem man seinen Weg gehen kann und keine Rücksicht auf andere nehmen muss. Kommt ein solcher Norweger in die Stadt, benimmt er sich so wie er es an den einsamen Orten gelernt hat. Die gute Work-Life-Balance ist Fluch und Segen zugleich. In meiner Freizeit weiß ich sie sehr zu schätzen, in meiner Arbeitszeit führt sie gelegentlich zu Frust über Verspätungen und Desinteresse. Abgesehen davon, dass ich die norwegische Sprache noch nicht perfekt beherrsche, gibt es einige Zwischentöne und -zeichen, die ich derzeit als dann Außenstehender zwar nicht greifen aber erahnen kann. Mittlerweile verstehe ich auch eher, wenn eine Aussage oder Handlung für nicht-deutsche Verhältnisse ungewöhnlich oder irritierend ist. Zum Beispiel, wenn ich Bedenken oder Kritik relativ direkt und frei ausspreche. Ob das der Beginn der dritten Phase „Anpassung“ ist?

Bei einigen Gewohnheiten habe ich vielleicht auch schon unbewusst die Phase 3 durchlaufen. Es fällt jedoch sehr schwer, dafür konkrete Beispiele zu finden. Sicherlich – und hoffentlich – habe ich mich in den letzten zwei Jahren verändert und entwickelt. Doch was davon fällt zum Beispiel auf den Wechsel vom Kleinstadtleben in die Großstadt zurück? Welche Meinungen und Werte hätte man sowieso auch in Deutschland hinterfragt und geändert?

Unumstritten bleibt, dass ich die Natur, das Wasser und die Jahreszeiten genieße.

Um meine Punkte deutlich zu machen, ist der obige Text an der einen oder anderen Stelle plakativ und übertrieben dargestellt und die Schattenseiten lesen sich so geballt wesentlich dunkler als sie im alltäglichen Leben sind. Tatsächlich ist heute der kürzeste Tag des Jahres. Die Sonne ist heute um 9:18 Uhr auf- und um 15:12 Uhr untergegangen. Dazwischen war es aufgrund des Regenwetters jedoch auch nicht viel heller.

Damit wünsche allen ein besinnliches, frohes, leuchtendes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr! God jul!

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