November-Blues
Die dunkle Jahreszeit ist angebrochen und der schlimmste Monat des Jahres, vor dem ich vor meinem Umzug so eindringlich gewarnt wurde, neigt sich dem Ende entgegen. Das bunte Laub ist verschwunden und formt maximal noch braune Flecken auf dem grauen Asphalt. Zwischen dem Sonnenaufgang um 08:30 Uhr und dem Sonnenuntergang um 15:30 Uhr lässt die dicke Wolkendecke kaum einen Sonnenstrahl durch. Die erste Adventskerze wurde aus purem Verlangen nach Gemütlichkeit schon vor drei Wochen angezündet und ist fast abgebrannt. Eigentlich sollte ein Adventskranz in Skandinavien acht statt vier Kerzen haben. Selbst so mancher Urlaubsplanungsmuffel spielt mit dem Gedanken einer Reise in den Süden im Frühjahr nächsten Jahres. (Der Sommerurlaub wird selbstverständlich in Skandinavien verbracht.) Sehnsüchtig warte ich auf den ersten Schnee, der auch über den Tag liegen bleibt. Vorbereitend haben wir nun auch für meinen Mann Langlaufski im Keller stehen. Mit etwas Glück wird es nächste Woche soweit sein. Der zweite Abendkurs Norwegisch lässt uns zweimal in der Woche nach der Arbeit vor die Tür gehen. Im Fitnessstudio habe ich „meinen“ Kurs – eine Mischung aus Pilates, TaiChi und Yoga – gefunden, um dem Büroalltag am Schreibtisch und der Müßigkeit der dunklen Jahreszeit etwas entgegensetzen zu können. Noch sind selbst der „Hund“ und das „Happy Baby“ eine Herausforderung für mich, doch ich hoffe auf schrittweise Besserung.
Für mich lauert neben der dunklen Jahreszeit eine weitere Unbehaglichkeit in den Tiefen der menschlichen Psyche: der Übergang in Phase 2 gemäß dem 4-Phasenmodell von Kalervo Oberg (Stichwort „Kulturschock“). Laut Obergs Theorie über Migration/ Auswanderung gibt es vier Phasen, die der Migrant/ Auswandernde durchlebt: Die erste Phase ist die sogenannte „Honeymoon Phase“, in welcher die neue Kultur fasziniert beobachtet und euphorisch entdeckt wird. Die zweite Phase ist die sogenannte „Krise“, in welcher der Auswandernde die neuen Begebenheiten mit dem Gewohnten aus dem Heimatland vergleicht und kritisch hinterfragt. Nicht selten drängt sich der Gedanke „früher war das besser“ in den Vordergrund. In der dritten Phase, der Phase der „Erholung“ entwickelt der Auswandernde Verständnis für die andersartigen Handlungsweisen, um sich dann in der vierten Phase namens „Anpassung“ zu integrieren und einige der zuvor fremden Handlungsweisen zu übernehmen.
Seit einigen Wochen hinterfrage ich viele Handlungsweisen der norwegischen Bevölkerung um mich herum. Ich käme nicht auf die Idee, dies eine „Krise“ zu nennen, doch es ist unbestreitbar, dass gewisse Andersartigkeiten Grübeleien auslösen. Die meisten Andersartigkeiten, die ich entdeckt habe, hängen stark mit der plakativen, von mir bisher eher als Vorurteil gesehenen deutschen Ordnung und Struktur zusammen. Besonders ins Auge fällt dies bei einigen Arbeitssituationen. Doch auch in meinem Alltag gibt es Beispiele, die bei mir derzeit Verwirrung auslösen. Nirgends zeigt sich (fehlende) Ordnung besser als bei der städtischen Straßenplanung. Oslo möchte gern eine fahrradfreundliche Stadt werden. Folglich werden Radfahrwege gebaut; dies kann ein separater zweiter Weg neben der Straße, ein roter Streifen auf der Autostraße oder die Hälfte eines Fußweges sein. Das kommt mir sehr entgegen. Blöd ist es nur, wenn diese Wege an den unmöglichsten Stellen abrupt enden oder über eine Bushaltestelle laufen, in der in 80% der Fälle gerade ein Bus steht. Es wird darauf vertraut, dass Fahrradfahrer und Autofahrer das schon rücksichtsvoll unter sich klären. Leider sind weder die Auto- noch die Fahrradfahrer rücksichtsvolle Verkehrsteilnehmer. Große Kreuzungen mit Ampelschaltung sind oft besser als das abendliche Fernsehprogramm: Man stelle sich eine Ampelkreuzung in Deutschland vor. Nun verdoppelt man die Anzahl an Ampeln und setzt die neu hinzugedachten Ampeln jeweils nicht nur vor die Kreuzung, sondern auch nochmal hinter die Kreuzung, genauer gesagt vor den Fußgängerüberweg auf der gegenüberliegenden Seite. Schließlich stellt man sich Berufsverkehr an dieser Kreuzung vor. Die Autos fahren langsam über ihre „erste“ noch grüne Ampel, schaffen jedoch die zweite Ampel nicht mehr, und stehen somit mitten auf der Kreuzung. Die Regel, dass man die Kreuzung frei halten sollte, gibt es wohl nicht. Das i -Tüpfelchen ist dann noch die „trikk“ (wer aufmerksam den Blog gelesen hat, weiß, was das ist) mittendrin. Von der Angewohnheit, bei „dunkelgrün/ orange“ als Fußgänger über die Kreuzung zu gehen, habe ich mich zügig verabschiedet. Es gibt kein „orange“ und fast zeitgleich mit dem Umspringen der Fußgängerampel von grün auf rot bekommen die Autofahrer freie Fahrt. Ein weiteres Beispiel ist der Umgang mit Digitalisierung. Norwegen gilt als sehr fortgeschritten in der Anwendung von neuen digitalen Möglichkeiten, wie beispielsweise der Kartenzahlung. Kein Bargeld mehr mit sich herumschleppen zu müssen ist sehr praktisch und bequem, so dass ich mich hier sehr schnell angepasst habe, und es mir mittlerweile unangenehm ist, in Deutschland (zum Beispiel in der Straßenbahn) bar bezahlen zu müssen. Nichtsdestotrotz scheint es auch hier so wie mit den Fahrradfahrwegen zu sein: Eine gute Idee wurde angefangen, aber vielleicht dann noch nicht besonders detailliert ausgeplant. Oder wie kann ich es mir sonst erklären, dass der Security-Mann in der Bankfiliale einer älteren Dame hilft, ihre Kontoangelegenheiten an einem Computer im Foyer zu erledigen, während die Bankmitarbeiter im Foyer den Zugang zum Schalter verweigern und lediglich die Information geben, man könne das ja online machen. Immerhin brüllt der Computer keine Daten wie Namen, Kontostand und Ähnliches durch die gesamte Bankfiliale. Aber dass Datenschutz hier keine große Rolle spielt, ist ja bekannt.
Während in diesen Bereichen also die Phase 2 ein- und aufgetreten ist, bin ich wohl in anderen Bereichen immer noch in der Phase 1. Die Umgebung, die Landschaft, der Wald, das Meer, die Seen, die Flüsse und das spannende Wetter bzw. die Jahreszeiten lassen mich immer noch voller Begeisterung draußen herumlaufen. Als ich neulich zu Besuch in einer deutschen Großstadt war und mir neben einer unfassbar lauten und stinkigen Straße meinen Weg durch Menschenmassen und Müll auf dem Boden bahnen musst, wusste ich ziemlich schnell wieder wo ich mich am Wohlsten fühle. Sogar im November.
BLOGARCHIV: