Tourist in der eigenen Stadt

Während ihres Urlaubes genießen es die meisten Menschen durch eine fremde Stadt zu schlendern, das Flair…

– laut Duden heißt es tatsächlich „das“ Flair. Aber warum beschäftige ich mich noch mit der deutschen Sprache?! Im Norwegischen gibt es diesen Ausdruck nicht. Nach meinen Internetrecherchen und der Aussage meiner Mitbewohnerin kann man lediglich sagen, dass eine Stadt „trivelig“ oder „avslappende“ ist. Generell scheint es in der norwegischen Sprache viel weniger Worte zu geben als beispielsweise im Englischen oder Deutschen. So habe ich schon häufiger mitbekommen, dass auch Norweger untereinander manchmal zur englischen Sprache wechseln, um sich exakter auszudrücken. Gegeben, dass dies wirklich so ist, muss ich also nicht ganz so viele Vokabeln lernen wie damals als ich anfing zu sprechen. Da man im Alter ja auch vergesslicher wird, finde ich das nur fair. Doch nun zurück zu meinen ursprünglichen Gedanken. –

… der Stadt zu erleben und sich an kleinen Dingen wie einem schönen Gebäude oder guten Straßenmusikern zu erfreuen. In der eigenen Stadt hetzen sie durch die Stadt, in der sie leben, ohne nach links und rechts zu schauen. Wenn man jedoch in eine fremde Stadt zieht, erlebt man die Stadt als Tourist. Jede Kleinigkeit, jede Situation wird begutachtet und mit Wohlwollen bewertet: Macht der Hund mitten auf den Fußweg? – Ach, da kommt ja schon das Herrchen mit einem Beutel. Das ist aber eine ordentliche, saubere Stadt. Hat der Mann in der U-Bahn („T-bane“) etwa einen Papageien auf der Schulter? – Beruhigend, dass es auch hier merkwürdige Leute gibt. Es wird eine kostenlose Führung durch das norwegische Parlament angeboten? – Das ist sicherlich interessant. Hin da!

Allein dieses „Tourist-in-der-eigenen-Stadt-sein“ ist Grund genug gelegentlich umzuziehen. An der Führung im norwegischen Parlament – Stortinget genannt – habe ich an einem ruhigen Samstagmorgen teilgenommen, und kann sie sehr empfehlen. Die Führung wird in englischer und norwegischer Sprache angeboten. Da ich sichergehen wollte den Inhalt zu verstehen, entschied ich mich sicherheitshalber für die englische Führung. Die norwegische Führung werde ich später im Jahr sicherlichmit meinem Mann noch einmal besuchen. An diesem kühlen Samstagmorgen stand ich also pünktlich um 9.50 Uhr in einer kleinen Schlange, die sich vor dem Parlamentsgebäude gebildet hatte. Die Schlange der interessierten Frühaufsteher bestand aus mehreren Pärchen, bei denen sich die kulturell interessierte Frau durchgesetzt hat, drei chinesischen Touristen, einer Mutter mit Tochter, deren Mann bzw. Vater vermutlich darum gekämpft hat nicht mitgehen zu müssen, und einigen weiteren Einzelgängern. Um 10 Uhr wurden wir durch die Sicherheitskontrollen, welche denen am Flughafen entsprechen, geschleust. Von meinem Besuch im Munch-Museum im vergangenen Jahr kannte ich diese Prozedur schon. Die ca. 50-Minutige Führung war sehr informativ und die Themen motiviert vorgetragen. Mir ist besonders im Gedächtnis geblieben, dass Norwegen im Jahr 1905 verzweifelt jemanden suchte, der König werden wollte. Zuvor wurde Norwegen abwechselnd unter schwedischer und dänischer Herrschaft regiert, so dass das Land keine eigene Königsfamilie hatte. Schließlich wurde Prinz Christian Frederik Carl Georg Valdemar Axel von Dänemark und Island – zugegebenermaßen habe ich mir diesen Namen nicht behalten, sondern nachträglich recherchiert – auserwählt, König Haakon VII. zu werden. Die norwegische Königsfamilie besteht also eigentlich aus Einwanderern. Das gibt Hoffnung, dass auch wir uns gut integrieren können.

Ähnlich wie der Versammlungsort Thingvellir auf Island ist auch das Stortinget aus der Idee einer Volksversammlung entstanden. Während Norwegen bis zum Ende der Koalitionskriege (Stichwort: Napoleon) in einer Union mit Dänemark war, sollte das Land nach den Kriegen an Schweden gehen. Die Norweger hingegen strebten ihre Unabhängigkeit an und legten am 17. Mai 1814 in Eidsvoll (nord-östlich von Oslo gelegen) den Grundstein für ein eigenes, norwegisches Grundgesetz. Daher wird der 17. Mai als Feiertag mit traditionellen Umzügen gefeiert - ich bin sehr gespannt dies bald mitzuerleben. Nach einem kurzen Krieg gegen Schweden beugten sich die Norweger und gingen eine Union mit Schweden ein. Immerhin blieb das Fundament ihrer eigenen Verfassung gültig. Über die Zeit hinweg wurde Norwegen unabhängiger von Schweden. So wurde die Regierung ab1884 nicht mehr durch den schwedischen König, sondern durch das Stortinget bestimmt. Die komplette Unabhängigkeit von Schweden erlangte Norwegen durch ein Referendum im Jahr 1905. Mit dieser freudigen Information ist der Geschichtsunterricht ohne Gewähr für heute beendet.

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